News, Apr 2023

VdM #10 – The Collapse of Insects

besprochen von Carolin Enzingmüller

Ein visuell packender Artikel von Reuters

Insekten sind weit mehr als nur kleine Kreaturen, die um uns herumschwirren. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des empfindlichen Gleichgewichts in unserer Umwelt. Studien zeigen, dass zahlreiche Insektenpopulationen abnehmen, was Anlass zur Sorge über die Auswirkungen auf die biologische Vielfalt unseres Planeten gibt. Reuters veröffentlichte kürzlich einen visuell eindrucksvollen Artikel mit dem Titel The Collapse of Insects (Das Insektensterben), den wir als Visualisierung des Monats #10 ausgewählt haben. Die Autorinnen und Autoren untersuchen darin die Problematik und erörtern die vermuteten Ursachen für den Rückgang der Populationen, zum Beispiel der Verlust von Lebensräumen, die industrielle Landwirtschaft und der Klimawandel. Das Problem könnte jedoch komplexer sein, als Reuters und andere Medien nahelegen.

Visuelle Nostalgie und bionische Datenvisualisierungen

Als ich den Artikel das erste Mal durchblätterte, fühlte ich mich unweigerlich von Nostalgie erfüllt. Die Illustrationen, die in einem handgezeichneten Stil und in gedeckten, natürlichen Farben vor einem beigen Hintergrund gehalten sind, erinnerten mich an die Naturbücher und Feldführer, die ich als Kind hatte. Diese Bücher zeigten Insekten als faszinierende Lebewesen, jedes mit seinen ganz eigenen Merkmalen. Ich erinnerte mich an die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte, diese kostbaren Bücher zu studieren, durch die Seiten zu blättern und die komplizierten Details jedes Insekts zu bewundern. Die Illustrationen waren nicht nur wunderschön. Für mich dienten sie als Tor zum Lernen über die Natur und ihre komplexen Zusammenhänge. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich in eine Zeit zurückversetzt, in der die Welt noch voller Wunder und Entdeckungsfreude war.

Bei genauerer Betrachtung des Artikels zielen die Infografiken darauf ab, das Bewusstsein der Leser für die Schwere und das Ausmaß des vorliegenden Problems zu schärfen. Ein wunderschön gestaltetes Diagramm zu Beginn des Artikels zeigt die verschiedenen Arten, die auf Insekten als Nahrung angewiesen sind, von Fröschen über Schlangen bis hin zu Vögeln. Es vermittelt dem Leser ein Gefühl dafür, wie ein Rückgang der Insektenpopulationen letztendlich zu einem Zusammenbruch dieser Nahrungsketten führen könnte.

Aufwändig gestaltete Datenvisualisierungen wecken Assoziationen mit anatomischen Strukturen aus der Insektenwelt. Sie zeigen, dass Insekten die vielfältigste Gruppe von Organismen auf unserem Planeten sind. Gleichzeitig offenbaren sie die Unklarheit über ihre tatsächliche Anzahl, die wir nur annähernd schätzen können. Obwohl etwa 1 Million Insektenarten bekannt sind, ist nur für etwa 1 % von ihnen der Erhaltungszustand untersucht worden. Dieses Problem ist größtenteils auf eine einseitige Vergabe von Forschungsmitteln zurückzuführen. So sind die Mittel für wirbellose Tiere nach wie vor drastisch niedriger als die für Wirbeltiere. Und es kann einige Zeit dauern, bis sich die Situation verbessert. Infolgedessen ist die überwiegende Mehrheit der Insektenarten deutlich zu wenig erforscht.

Das Narrativ der Insektenapokalypse

Obwohl die Illustrationen atemberaubend sind und Gefühle der Nostalgie und des Staunens auslösen können, stützt sich der Artikel stark auf das Narrativ der „Insektenapokalypse“. Dieses legt nahe, dass wir einen weit verbreiteten globalen Insektenrückgang erleben, mit Ausnahme von Schädlingsinsekten (Saunders, Janes, O’Hanlon, 2020). Aus wissenschaftlicher Sicht wurde dieses Narrativ dafür kritisiert, dass es komplexe Sachverhalte zu stark vereinfacht und sensationslüsterne Ansichten über die Situation fördert (Simmons et al. 2019; Thomas et al. 2019).

Die Kritik geht dahin, dass es nicht genügend umfassende Daten gibt, um die Behauptung eines weit verbreiteten Rückgangs der Insektenpopulationen zu stützen. Zwar gibt es viele Studien, die einen Rückgang bei bestimmten Arten oder in bestimmten Regionen belegen. Es gibt aber auch Gegenargumente, dass es aufgrund von Einschränkungen bei der Datenerfassung und -analyse schwierig ist, allgemeine Schlussfolgerungen über globale Insektenpopulationen zu ziehen. Es gibt auch einige Studien, die stabile oder wachsende Insektenpopulationen zeigen. Angesichts dieser Kritikpunkte warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das Narrativ der „Insektenapokalypse“ mit Vorsicht zu genießen.

Ungewissheit als Teil des Wissenschaftsbetriebes

Als Wissenschaftskommunikatorinnen und -kommunikatoren müssen wir uns der Ungewissheit bewusst sein, die den Naturwissenschaften innewohnt. Die „Nature of Science“ ist ein Begriff, der von der Wissenschaftsvermittlung verwendet wird, um diesen Aspekt der wissenschaftlichen Forschung zu beschreiben. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Erkenntnisse vorläufig sind, mit dem Auftauchen neuer Beweise revidiert werden und offen für Interpretationen sind (Allchin 2011; Lederman 2007).

Der Reuters-Artikel ist visuell beeindruckend und spricht wichtige Themen an. Er verpasst aber die Chance, tiefer in die Komplexität des wissenschaftlichen Prozesses einzutauchen und die Leserinnen und Leser so an einem stärker evidenzbasierten Verständnis des Insektenschutzes teilhaben zu lassen. Auf diese Weise könnten wir vielleicht ein Gefühl des Staunens und der Wertschätzung für die Welt der Insekten wecken und gleichzeitig auf den Aufbau wissenschaftlicher Kenntnisse sowie die Erhaltung dieser lebenswichtigen und faszinierenden Kreaturen hinarbeiten, die ich immer noch gerne in meinen alten Naturbüchern bewundere.

The Collapse of Insects

Authorinnen und Autoren: Julia Janicki, Gloria Dickie, Simon Scarr and Jitesh Chowdhury
Illustrationen: Catherine Tai

Referenzen
Allchin, D. (2011). Evaluating knowledge of the nature of (whole) science. Science Education, 95, 518–542.

Lederman, N. G. (2007). Nature of science: past, present, future. In S. Abell & N. Lederman (Hrsg.), Handbook of research on science education (S. 831–879). Mahwah: Lawrence Erlbaum.

Saunders, M. E., Janes, J. K., & O’Hanlon, J. C. (2020). Moving on from the insect apocalypse narrative: engaging with evidence-based insect conservation. BioScience, 70(1), 80-89.

Simmons, B. I., Balmford, A., Bladon, A. J., Christie, A. P., De Palma, A., Dicks, L. V., … & Finch, T. (2019). Worldwide insect declines: An important message, but interpret with caution. Ecology and evolution, 9(7), 3678-3680.

Thomas, C., Jones, T. H., & Hartley, S. E. (2019). “Insectageddon”: A call for more robust data and rigorous analyses. Global change biology, 25, 1891–1892.

Über die Visualisierung des Monats

In der Serie „Visualisierung des Monats“ stellen wir jeweils am zweiten Mittwoch des Monats eine herausragende Visualisierung vor. Ein Kriterium bei der Auswahl ist, inwieweit diese aus Design-Perspektive ästhetisch und emotional ansprechend ist. Außerdem schauen wir uns den Informationsgehalt an. Dazu gehört auch, wie die Nutzerinnen und Nutzer der Visualisierung dabei unterstützt werden, komplexe Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Auswahl erfolgt innerhalb des KielSCN-Teams und bezieht das Fachwissen aus den Bereichen Informationdesign, Bildungswissenschaften und Emotionsforschung sowie der Wissenschaftskommunikationsforschung ein.


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